Der Anfang ist getan - Deutschland hat einen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit

Berlin 24. April 2024

240424 NAPDiese Woche hat die Bundesregierung erstmals einen nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit verabschiedet. Sie verfolgt damit das EU-weite Ziel, die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Vorgestellt wurde der Aktionsplan in unserer Arztpraxis für obdachlose Menschen am Stralauer Platz.

Zu Gast waren Klara Geywitz, Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe, Sabine Bösing, Geschäftsführerin der BAG W, Robin Gosens, Nationalspieler und Vertreter der DFB-Stiftung sowie Dominik Bloh, der selbst lange obdachlos war und heute als Autor und Mitgründer  und Botschafter der GoBanyo gGmbH arbeitet.

 

Große soziale Nöte und akute Schmerzen

Zu Beginn führte Praxisleitung Christin Recknagel durch die Räumlichkeiten und informierte über die medizinische und zahnmedizinische Versorgung, die Möglichkeit der Sozialberatung und zeigte den Gästen den Speiseraum, die Bäder, den Waschraum und die Kleiderkammer. Die Ärzte in der Praxis arbeiten ehrenamtlich, die Kosten für Gesundheitsfachkräfte und die Sozialarbeiterin werden vom Land Berlin getragen. Die Praxis kooperiert für die Sozialberatung außerdem eng mit den beiden GEBEWO-Projekten Frostschutzengel und MOCT, die sich im selben Haus befinden.

Während des Rundgangs erzählte Christin Recknagel anschaulich von den gesundheitlichen Problemen und großen sozialen Nöten der Gäste. Vielen Menschen sei nicht klar, dass obdachlose Menschen sehr häufig von Krankheiten und Verletzungen betroffen sind und Krankenhäuser sie nach einer kurzen Notversorgung wieder auf die Straße schicken. Im Behandlungszimmer der Zahnarztpraxis berichtet sie von der akuten Not, in der die Menschen in die Praxis kommen. „Menschen, die auf der Straße leben, haben wenig Möglichkeiten zur regelmäßigen Zahnpflege, waren oft seit Jahren in keiner Behandlung und kommen dann oft unter großen Schmerzen in die Zahnarztpraxis.“ Viele Patient*innen seien zusätzlich von Suchtkrankheiten und psychischen Beeinträchtigungen betroffen, das mache die kontinuierliche Behandlung z. B. von offenen Wunden oder Krätze schwierig.  Die Bundesministerin und die Senatorin waren sichtbar beeindruckt von den Leistungen in der Praxis. Man nahm sich Zeit für Austausch, Fragen und Erläuterungen, bevor die offizielle Pressekonferenz startete.

 

Wohnungslosigkeit als große Herausforderung unserer Zeit

Zunächst stellte Klara Geywitz die Eckpunkte des Aktionsplanes vor, insbesondere die verstärkten Bemühungen um den sozialen Wohnungsbau, in den allein 2024 etwa 3,15 Mrd. Euro fließen sollen. Bis 2027 sollten 18,15 Mrd. Euro dafür zur Verfügung stehen. Weitere Säulen des Aktionsplans sind u. a. die geplante Wohngeld-Plus-Reform, die Stärkung der Prävention gegen Wohnungsverlust sowie die bundesweite Förderung von Housing-First-Projekten. In ihrem Statement stellte sie fest: “Wohnungslosigkeit ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen europäischen Ländern.”

Daran schloss auch Frau Senatorin Kiziltepe an und betonte: „Nur mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung werden wir Erfolge erzielen.” Damit zielte sie besonders auf die notwendige Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen, aber auch mit den anderen EU-Staaten ab. Sie wies weiter auf die Bemühungen des Landes Berlin zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit hin und erwähnte hier insbesondere die geplante gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung (GSTU) und den Ausbau der Housing First-Projekte in der Stadt hin.

 

„Wir sind zum ersten Mal sichtbar“

Fußballprofi Robin Gosens appellierte in seinem Statement an die Zivilgesellschaft. Nicht nur die Politik, sondern jede*r Einzelne von uns trage eine Verantwortung dafür, dass Wohnungslosigkeit in Deutschland bekämpft werde. Er rief dazu auf, Vorurteile abzubauen und Wohnungslosigkeit als etwas zu begreifen, was uns alle angeht. Hier knüpfte Dominik Bloh an und betonte „Wohnungslosigkeit ist kein individuelles Problem, kein individuelles Versagen, es ist ein gesellschaftliches Problem“. Er sprach außer dem von „einem wichtigen Tag, für mich, aber vor allem für meine Leute“. Er selbst war mit 16 Jahren obdachlos geworden und hatte lange Zeit auf der Straße verbracht. Mit dem Aktionsplan, an dessen Entwicklung er beteiligt war, habe er erstmal das Gefühl, obdachlose Menschen seien auf politischer Ebene wirklich sichtbar geworden. Er begrüße insbesondere die vorgesehenen Qualitätsstandards für Notunterkünfte und hoffe auf eine schnelle Umsetzung.SozialBerlin_Aktuelles_240424_NAP_PK.jpgGeschäftsführerin der BAG W Sabine Bösing rief in ihrem Statement die Politik dazu auf, den Aktionsplan zeitnah in konkrete Maßnahmen umzuwandeln. „Der Druck ist enorm. Jeden Tag erreichen uns zahlreiche Anfragen von Menschen, die verzweifelt sind, weil sie keine Wohnung mehr finden“, so Bösing. Die BAG-W war ebenfalls an der Ausgestaltung des Aktionsplans beteiligt. Auch in Zukunft stünde sie mit fachlicher Expertise bei der Umsetzung und Weiterentwicklung zur Verfügung, so Bösing weiter. Am Ende aber werde die Bundesregierung daran gemessen, ob sich an der Lebensrealität der Betroffenen tatsächlich etwas verändere. „In diesem Sinne, lassen Sie uns starten und ran an die Arbeit!“ sagte Blog zum Abschluss an die beiden Politikerinnen gerichtet.

 

Der Anfang ist getan, jetzt braucht es Einsatzwillen und verbindliche Vorgaben

Wie die meisten anderen NPOs freuen wir uns, dass die Bundesregierung das Thema Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit, als prekärste Form der Armut, auf ihre Agenda gesetzt hat. Das ist lange überfällig. In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Problem allzu oft auf die Kommunen abgewälzt, die per Gesetz eine Unterbringungspflicht haben. Gleichwohl halten wir das definierte Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 weitgehend „abzuschaffen“ für überaus ambitioniert. Die Bundesregierung folgt hier in der Fristsetzung der Erklärung von Lissabon von 2021 und hat hierbei schon drei wertvolle Jahre verloren. Alle 27 EU-Mitgliedsstaaten verpflichteten sich bei der Konferenz von Lissabon, dass niemand mehr bis 2030 in der EU auf der Straße leben müsse.

Wir können momentan nicht erkennen, wie diese immens schwierige Aufgabe zwischen Bund, Ländern und Kommunen koordiniert werden soll. Darüber hinaus müssen Wohnungswirtschaft, Gerichte (z. B. bei Zwangsräumungen), die Träger und Verbände der Wohlfahrtspflege wie auch Betroffenenvertretungen nicht nur in die Zielplanung, sondern auch sichtbar in den Umsetzungsprozess involviert werden. Wir wünschen uns, dass Bund, Länder und Kommunen sich auf zeitliche Vorgaben verständigen, messbare (Zwischen-)Ziele formulieren, ein regelmäßiges Monitoring und Berichtwesen sowie eine Evaluation der Fortschritte in der Umsetzung vereinbaren. Die Aufgaben und Kompetenzen des sog. Lenkungskreises bleiben bisher unklar. Ebenso könnte ein aktiver Austausch über Einzelmaßnahmen und deren Erfolge mit anderen EU-Staaten hilfreich sein.
Aus unserer Sicht kommt der aktive Einsatz der Hilfen gemäß § 67 SGB XII im Aktionsplan zu kurz, dabei können diese gute Erfolge erzielen, wenn Leistungsträger und Leistungsanbieter gut zusammenarbeiten. In Berlin wird in dem Bereich aktuell z.B. das sogenannte Planmengenverfahren praktiziert, dass die Ausgaben der Bezirke in diesem Leistungsbereich budgetiert und damit beschränkt. Man könnte zudem die Hilfen § 67 SGB XII nach 25 Jahren reformieren und darin die Arbeitsweise und Methoden von Housing First integrieren, ohne dabei Hilfeansprüche über Budgetverfahren zu beschränken.

Das Zünglein an der Waage wird jedoch die Verfügbarkeit von bezahlbarem und barrierearmen Wohnraum sein, vor allem im Hinblick auf den demografischen Wandel. Gerade Ballungsgebiete wie Berlin sind durch Zuzug und nur eingeschränkt verfügbare Bauflächen schnell an den Grenzen ihrer Möglichkeiten. Hemmend wirken hierbei auch die hohen Grundstücks- und Baupreise, die komplizierten, geltenden Bauvorschriften und der Personalmangel in vielen Baubehörden.
Der Bauantrag für die Erneuerung des Dachgeschosses mit zusätzlichem Wohnraum für suchtkranke, wohnungslose Männer für das Haus Schöneweide in Berlin-Treptow liegt nun seit bald 1,5 Jahren in der Bearbeitung des zuständigen Bauamtes. Das ist etwa ein Viertel der Zeit, die uns noch bleibt, um das Ziel des „Nationalen Aktionsplans gegen Wohnungslosigkeit“ zu erreichen. Es ist also noch viel zutun und nur zu schaffen, wenn alle Verantwortlichen an einem Strang ziehen.

Hier gibt es den Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit zum Download